Zur Kritik der politischen Anthropologie

“Der Mensch ist von Natur aus ein politisches Wesen.„

Zur Kritik der politischen Anthropologie

Hans Sluga

 

(Veröffentlicht in Die anthropologische Wende, Basel 2014)

 

Anthropos physei politikon zoon“. Wir übersetzen gemeinhin: „Der Mensch ist von Natur aus ein politisches Wesen“.  Der Satz steht so im ersten Buch der Politik  des Aristoteles  und ist gewiss der bekannteste, der am häufigsten nachgesprochene,  vielleicht auch der wichtigste, weil zugleich der grundlegendste in diesem Werk.[1] Der Satz ist grundlegend, insofern als er besagt, dass man die Politik von der Natur des Menschen her verstehen muss und nicht, wie Platon in seiner Politeia, von der Idee des Guten her. Aristoteles wird mit diesem Satz zum Begründer der politischen Anthropologie.

Ich habe den aristotelischen Satz zitiert, um anzudeuten, dass die anthropologische Wende in der Philosophie nichts Neues ist, und dass es solche Wenden schon mehrfach gegeben hat und jedenfalls lange vor derjenigen, von der wir heute sprechen.  Eine anthropologische Wende liegt, in der Tat, immer nahe, wenn sich die Philosophie mit menschlichen Dingen beschäftigt – wie insbesondere in der Ethik und im politischen Philosophieren. Man kann über solche Themen allerdings auch anders – d.h., nicht-anthropologisch – sprechen und das in zwei verschiedenen Weisen. Man kann erstens wie Platon von der zeitlosen Form des Guten ausgehen und der idealen Architektur der glücklichen Polis oder, wie Kant und John Rawls, von abstrakten Prinzipien der Moral oder der Gerechtigkeit. Man kann  ethische und politische Probleme auch historisch-hermeneutisch deuten anstatt sie in einer naturalistischen Anthropologie zu verankern. Aber in Ethik und Politik besteht doch stets der Drang, vom Menschen und seiner Natur zu reden. Wir wissen, wie die frühesten  Denker Griechenlands sich  mit dem Kosmos, nicht mit dem Menschen befassten. Als Sokrates dann ethische und politische Fragen zum Thema seines Nachdenkens machte, sah er sich – zum ersten Male in der  griechischen Philosophie – zu einer anthropologischen Wende genötigt. Sein Schüler Platon versuchte noch einmal die Rückkehr zum Kosmischen, Zeitlosen, Universellen, sodass Aristoteles sich schließlich erneut veranlasst sah, eine anthropologische Wende im ethischen und politischen Denken zu unternehmen.

Aristoteles wollte Politik von der Natur, dem „Wesen“ des Menschen her verstehen. Aber dieses Wesen kann in verschiedener Weise verstanden werden. Es gibt daher verschiedene Formen von politischer Anthropologie.  Nur eine davon ist die aristotelische, die allerdings lange vorgeherrscht hat und noch heute in der katholischen Theologie herumgeistert, die sich aber inzwischen als unzureichend erwiesen hat und auf einem unhaltbaren Naturbegriff bauend. In der neueren Philosophie hat es daher, wie bei Hobbes, wiederholt Versuche gegeben, die politische Natur des Menschen nicht-aristotelisch neu zu bestimmen. Am Endpunkt dieser Entwicklung liegt heute eine ethologische Form von politischer Anthropologie, die Anspruch auf objektive Wissenschaftlichkeit erhebt. In ganz anderem Sinne haben Hellmuth Plessner und Carl Schmitt eine ganz andere politische Anthropologie ins Auge gefasst, indem sie Politik aus einem existenzphilosophischen Begriff des menschlichen Wesens zu deuten suchen. Während Schmitt ausdrücklich darauf besteht, dass jede echte politische Theorie einer anthropologischen Basis bedarf, zitiert er zugleich Plessner, nach dem „es keine Philosophie und keine Anthropologie gibt, die nicht politisch relevant wäre, ebenso wie umgekehrt keine philosophisch irrelevante Politik“. [2]   Das wirft, nach Schmitt, die Frage auf, inwieweit sich Philosophie und Anthropologie, „als spezifisch aufs Ganzes gehendes Wissen“, gegen politische Lebensentscheidungen neutralisieren können.[3] Er fragt also, ob es überhaupt eine politisch  neutrale politische Anthropologie geben kann. Und mit dieser Frage geht die politische Anthropologie bereits in eine Kritik der politischen Anthropologie über.

Politische Anthropologie nach Aristoteles

Aristoteles sagt, dass wir auf Grund unserer physis politische Wesen sind. Wir übersetzen „physis“ mit Natur aber das ist missverständlich und das Wort braucht daher eine  Erklärung.  Die Natur ist für uns etwas Materielles, das Kausalgesetzen unterworfen und so von mechanischer Notwendigkeit beherrscht ist, und das in seinem biologischen Teil mit Hilfe der  Genetik und Evolutionslehre zu verstehen ist. Aristoteles sieht das anders. Das “Physische” hat für ihn ein telos, einen Endzweck, der bestimmt, was ein Ding ist, was es werden kann, und wie es sich unter verschiedenen Bedingungen verhalten wird.  So hat die Eichel das telos, zur Eiche zu werden. Das heißt nicht, dass sie mit Notwendigkeit zur Eiche wird. Die Eichel hat vielmehr nur das Potential, eine Eiche zu werden. Das telos der Eichel ist aber dann allein realisiert, wenn sie sich wirklich zur Eiche entwickelt. Der Mensch ist für Aristoteles ein Wesen, das auf physische Weise politisch ist. Das besagt nicht, dass der Mensch überall und notwendig politisch aktiv ist, sondern dass er stets und überall die Kapazität hat politisch aktiv zu sein und dass er sein Potential nur in dieser Weise realisiert. Der Mensch hat die Disposition aktiv politisch zu sein; äußerliche und innerliche Umstände bestimmen aber, ob diese Disposition je zum Zug kommt.

Aristoteles kontrastiert physis und nomos. Wir können sagen, dass physis für ihn das ist, was aus sich selbst entsteht  während nomos ein Resultat menschlicher Bemühung ist. Allgemeiner gesprochen ist nomos das Kulturelle, Konventionelle und daher auch das Lokale.  Nomos bezieht sich auf das, was wir erfunden oder hergestellt oder uns erworben haben – Besitz, Eigentum, aber auch Sitten, Gebräuche, und Einrichtungen. „Nomos“ bedeutet auch so viel wie Gesetz, d. h, Gesetz, das für eine spezifische menschliche Gesellschaft gemacht ist und daher auch nur in eben dieser Gesellschaft gilt. Physis ist demgegenüber das, was wir überall vorfinden. Wenn Aristoteles sagt, dass der Mensch auf Grund seiner physis ein politisches Wesen ist, so meint er damit, dass politisch sein kein bloßer nomos ist, keine erfundene Praxis oder lokaler Gebrauch. Es ist nicht der Fall, dass Menschen nur an einigen Stellen und zu einigen Zeiten die Disposition haben politisch zu sein.  Sie sind vielmehr überall zur Politik disponiert; sie haben das Potential politisch zu sein, wo immer und wie immer sie leben und das ohne irgendeinen Aufwand oder irgendeine Anstrengung ihrerseits. Sie haben es selbst, wenn ihnen die Gelegenheit fehlt, dieses Potential zu verwirklichen.

Der Mensch ist nach Aristoteles ein politisches Lebewesen, ein politikon zoon, aber genau wie sein Begriff der Natur unterscheidet sich auch sein Begriff des Lebens von dem unseren.  Aristoteles sagt, dass Lebewesen von nicht-lebendigen Wesen ihrer Form nach unterschieden sind, dass verschiedene Arten von Lebewesen selbst wieder verschiedene Formen haben, und dass diese Formen das jeweilige telos der Art bestimmen. So haben  Menschen ihre eigene Form, die aber doch in gewissen Beziehungen mit der Form anderer Lebewesen verwandt ist. Politisch zu sein haben andere Lebensformen mit der unseren gemeinsam, aber der Mensch ist nach Aristoteles ein “politischeres Lebewesen”  als alle anderen.[4] Zur Erläuterung dieses Gedankens muss man sich an die aristotelische Geschichte der Tiere wenden.  Aristoteles schreibt dort,  dass es soziale Tiere gibt, wie manche Fischarten und auch “die Biene, die Wespe, und die Ameise” die man von Arten unterscheiden muss, die vereinzelt leben,  aber auch von solchen, die sowohl in Gemeinschaft wie auch einzeln leben können. Der Mensch gehört, so Aristoteles, zu dieser dritten Sorte.  Das heißt für ihn aber nicht, dass ein Einzellebender sein menschliches telos erfüllen kann. Unsere Abhängigkeit bei der Geburt, unsere dauerndes Bedürfnisse nach Schutz, Wohnung, Kleidung, und Erziehung zwingen uns dazu, uns auf andere zu verlassen, und sie machen uns so zu gesellschaftlichen Wesen. Andererseits kann ein erwachsener Mensch – im Gegensatz etwa zur Ameise – auch als Eremit oder als Robinson Crusoe überleben.  Ein solcher Mensch, wird aber ohne vieles tun müssen, was für ein volles menschliches Leben von Bedeutung ist.

Gesellschaftlichkeit ist für Aristoteles eine Vorbedingung zum politischen Leben. Nicht alle gesellschaftlichen Wesen sind, allerdings nach Aristoteles, politisch. Um wirklich politisch zu sein, müssen sie zusätzlich auch “ein gemeinsames telos“, ein gemeinsames Ziel haben. Aristoteles sagt, dass der Mensch, die Biene, die Wespe, die Ameise und der Kranich diese Bedingung erfüllen. Unter Lebewesen, die in diesem Sinne politisch sind, gibt es weiterhin eine Untergruppe von solchen, die in unter Herrschern leben. Von dieser Sorte sind wieder der Mensch, der Kranich und verschiedene Bienenarten, die darum auch politischer sind als andere Arten, wie die Ameisen, die nach Aristoteles unter anarchischen Bedingungen existieren. Schließlich ist auch die Unterscheidung zwischen sesshaften und nomadischen Lebewesen von politischer Bedeutung.  Sesshafte Lebewesen sind intensiver politisch als die nomadischen. Es scheint danach, dass politische Lebewesen durch vier Merkmale gekennzeichnet sind: (1) sie sind gesellschaftliche Lebewesen, die (2) ein gemeinsames Ziel verfolgen, die (3) in einem Herrschaftssystem leben, und die (4) sesshaft sind. Weil nicht jede Art alle diese Merkmale aufweist, können wir von mehr oder weniger politischen Wesen sprechen.  Diejenigen, die alle vier Merkmale aufweisen,  sind die politischsten – und dazu gehören die Biene und der Mensch.

Die genannten Merkmale reichen allerdings nicht aus, um die spezifisch menschliche Art des Politischseins zu charakterisieren.  Aristoteles erklärt in seiner Politik, dass der Mensch “in einem höheren Grade” politisch ist als die anderen sozialen Tiere, also auch als die Biene. (1253a) Dabei nimmt er an, dass der Unterschied zwischen uns und anderen politischen Arten scharf und substantiell ist, nicht nur graduell. Der Mensch hat nämlich eine ganz spezifische Fähigkeit, die anderen politischen Lebewesen abgeht, und das ist seine Fähigkeit zum logos: zur Sprache, zum begrifflichen Denken, zum Urteile und Entscheiden, zu dem, was wir in einem Wort Vernunft nennen. Der Mensch kann daher auch als ein zoon logon echon, das heißt, als ein Vernunftwesen,  definiert werden. Es ist genau dieses Merkmal, das ihn von allen anderen Lebewesen unterscheidet, und es ist auch das, was den spezifischen Charakter der menschlichen Politik ausmacht. Dass der Mensch ein Vernunftwesen ist und dass er (im höchsten Grade) ein politisches Wesen ist bedeutet für Aristoteles also dasselbe.

Diese Vernunftfähigkeit erlaubt dem Menschen, über seine eigene Vergesellschaftung nachzudenken; sie macht es ihm möglich, sich verschiedene Formen des politischen Zusammenlebens vorzustellen und sie als besser oder schlechter zu beurteilen. Daher kommt die Vielfalt der möglichen Regierungsformen, auf die sowohl Platon wie Aristoteles immer wieder hinweisen. Im Gegensatz zu den Menschen ist die Form der Vergesellschaftung bei nicht-menschlichen Lebewesen ein für alle Mal festgelegt. Bienen wählen nicht ihr Herrschaftssystem; Ameisen denken nicht darüber nach, wie sie ihr soziales oder politisches Verhalten organisieren  sollten. Das Verhalten der Bienen ist von der Natur festgelegt, während wir Menschen uns  unsere eigenen Gesetze schaffen. Die spezifische Gestalt, die wir unserem politischen Leben geben, ist nicht von der Natur festgelegt sondern ein Kulturprodukt und als solches variabel – aber gerade das ist natürlich für uns. Es ergibt sich so für Aristoteles das Paradox, dass wir von Natur aus Konventionen brauchen, dass nomos  für uns Menschen etwas Physisches  ist.

Menschliche Politik ist genauso wie die Politik der gesellschaftlichen Tier mit der Erfüllung von Bedürfnissen befasst, aber im Gegensatz zu diesen anderen Arten geht es in der menschlichen Politik auch um  Exzellenz und Gerechtigkeit. Menschliche Politik ist, im Gegensatz zum politischen Leben der sozialen Bienen von Urteilen über das, was gut und schlecht, fair oder unfair ist, bestimmt. Allerdings bringt das auch mit sich, dass unsere Politik in Weisen fehl gehen kann, die im Tierleben unbekannt sind und dass das menschliche Verlangen nach Exzellenz und Gerechtigkeit zu blutigen Auseinandersetzungen und zerstörerischen Konflikten führen kann, von denen die Tierwelt nichts weiß. Dass die menschliche Form der Gesellschaft nicht ein für alle Male festliegt ist zugleich die Quelle aller unserer politischen Zwiste, Faktionen, Parteiungen, und Auseinandersetzungen. Und daraus erklärt sich die Hinfälligkeit unserer Institutionen, von der sowohl Platon wie Aristoteles schreiben.

Nach Aristoteles ist der Mensch in solcher Weise das politischste Lebewesen.  Aber wie alle anderen Worte in seinem Satz bedarf auch sein Begriff von Mensch einer Erläuterung. Unter Mensch versteht Aristoteles zunächst einmal die natürliche Art, das Genus Mensch, das Männer, Frauen, und Kinder einbezieht, und Menschen aller Kulturen und Rassen.  Von allen sagt er, dass sie das Potential zur spezifisch menschlichen Form von Politik besitzen. Er nimmt aber auch an,  dass nur wenige Menschen die Gelegenheit haben, dieses Potential vollständig in Wirklichkeit umzusetzen. Nur diese wenigen können also das menschliche telos voll verwirklichen. Der Mensch als Art ist nach Aristoteles zwar von Natur aus mit Vernunft begabt aber, dieses Potential ist nicht in allen Menschen gleichmäßig entwickelt. In Kindern ist der logos noch unterentwickelt, Frauen haben zwar logos aber in einer nicht-autoritativen Form, und diejenigen, die von Natur aus zur Sklaverei bestimmt sind,  haben logos nur in unterentwickelter Form. Sie alle können daher nicht aktiv am politischen Leben teilnehmen. Nur erwachsene, freie, und wirtschaftlich unabhängige Männer sind in der Lage, sich voll der Politik zu widmen. Politische Existenz ist für Aristoteles daher ein Ideal, dem nur wenige nahekommen.

Es gibt noch einen weiteren Grund, warum es für den Menschen so schwer ist, sein politisches telos zu verwirklichen. Wenn Aristoteles sagt, dass der Mensch von Natur aus politisch ist, dann versteht er nämlich das Wort “politisch” nicht in unserem heutigen weiten Sinne sondern mit Bezug auf die spezifische Institution der griechischen polis.  Wenn er sagt, dass der Mensch von Natur aus politisch ist, so meint er damit, dass der Mensch von Natur aus bestimmt ist, in einer polis zu leben und er hat ganz genaue Vorstellungen davon, was das bedeutet. Eine polis darf nicht zu klein und nicht zu groß sein. Sie muss groß genug sein um wirtschaftlich und militärisch unabhängig zu sein, sie muss die vielseitigen Bedürfnisse ihrer Einwohner befriedigen können, aber sie darf nicht so groß sein, dass die politisch qualifizierten Bürger sich nicht mehr persönlich kennen können. Aristoteles sagt, die polis muss klein genug sein, dass die Stimme des Herolds überall gehört werden kann. Wir dürfen den aristotelischen Terminus „polis“ also  nicht mit dem modernen Wort “Staat” übersetzen. Aristoteles ist kein Staatstheoretiker sondern ein Theoretiker der antiken polis. Er schreibt, dass „jemand der von Natur aus und nicht durch Zufall ohne polis ist, entweder ein armseliges oder ein übermenschliches Wesen ist.“ (1253a) Unsere Abhängigkeit von der polis ist nach Aristoteles so markant, dass “die polis in der Ordnung der Natur Priorität über den Haushalt und das Individuum hat.“ (1253a) Das Ganze hat nämlich notwendigerweise Priorität über den Teil insofern als „alle Dinge ihren wesentlichen Charakter von ihrer Funktion und Kapazität herleiten.“ (Ibid.) Etwas, das im Prinzip unfähig ist, seine Funktion auszuüben, ist demnach streng genommen nicht dasselbe Ding wie das, was seine Funktion erfüllt. Da Aristoteles annimmt, dass Menschen außerhalb der polis nicht vollkommen politisch und daher auch nicht vollkommen menschlich sein können, folgt, dass die polis logisch gesehen Priorität über das Individuum hat und dass die Menschen dazu bestimmt sind, in einer polis zu leben. Nicht dass die polis immer existiert hat. Die Menschen haben nur bis zur Errichtung der ersten polis kein vollständig politisches, und das heißt, kein vollständig menschliches Leben führen können. Aristoteles nennt den Erfinder der ersten polis daher auch einen der größten Wohltäter der Menschheit.

Er schreibt weiterhin, dass die polis “für das Überleben zustande kommt, aber dass sie zum Zweck des guten Lebens am Existieren bliebt.”[5] Die polis dient also der praktischen Notwendigkeit, hat aber zugleich  eine moralische Rechtfertigung, insofern als sie Fragen der Gerechtigkeit regelt. „Gerechtigkeit ist eine politische Sache“, so Aristoteles, denn sie ist „die Ordnung der politischen Gemeinschaft.”[6] Die aristotelische Formel, dass der Mensch von Natur aus ein politisches Wesen ist verkörpert also einen konkreten Politikbegriff im Gegensatz zu unserem abstrakten und minimalistischen Begriff, nach dem Politik nichts anderes als Manipulierung irgendeines Herrschaftssystems ist. Nach Aristoteles brauchen die Menschen politisch gesprochen nicht nur Regierung und Staat sondern das ganze reiche Leben einer städtischen Kultur. Im siebten Buch seiner Politik schreibt er, dass “das beste Leben für den Einzelnen aber auch für die polis als Ganze ein tugendhaftes Leben ist, dass mit allen nötigen Mitteln ausgerüstet ist, um an tugendhaftem Handeln teilzunehmen.“ (1223b) Er zählt dabei auf, was ein solches politisches System haben muss: “Erst einmal, muss es eine Versorgung mit Lebensmitteln geben. Zum zweiten, Handwerk (denn das Leben bedarf vieler Werkzeuge). Drittens, Waffen, denn die Mitglieder einer Gemeinschaft müssen ihre eigenen Waffen haben, sowohl um zu herrschen (denn es gibt Menschen, die nicht gehorchen) wie auch um mit Fremden, die ihnen Böses wollen, fertig zu werden. Zum vierten, leichter Zugang zum Wohlstand, sowohl für interne Bedürfnisse wie für den Kriegsfall. Fünftens, aber von größter Bedeutung, Aufsicht über religiöse Dinge, das man Priestertum nennt. Sechstens, und am notwendigsten von allem, Urteil darüber, was gut und fair ist in den Beziehungen untereinander“.

Ich ziehe folgende Schlussfolgerung aus dem Gesagten: Aristoteles legt eine zweistufige Anthropologie des Politischen vor. Politik dient nach ihm zuerst einmal biologischen Zwecken, dann aber auch spezifisch menschlich-moralischen. Menschliche Politik kann also nicht rein biologisch verstanden werden, sondern nur mit Bezug auf menschliche Vernunft. Die aristotelische Politik ist aber anthropologisch ausgerichtet, in dem sie die Vernunft in der menschlichen Art verankert sieht. Zugleich nimmt Aristoteles an, dass menschliche Politik nur unter beschränkten Bedingungen möglich ist: sie setzt eine Art von politischer Ordnung voraus, die nur in der griechischen polis voll verwirklicht ist; und selbst in dieser Ordnung können nur die wenigsten das Ideal einer aktiven politischen Existenz verwirklichen. Politik, so können, wir sagen ist für ihn erst einmal ein natürliches Bedürfnis, das stets vorhanden ist. Darüber hinaus ist sie aber auch ein Ideal und also solches nur selten und von wenigen realisierbar.

 

Politik und Ethologie

Der Politologe William Connelly hat vor einigen Jahren die vorherrschende Neigung kritisiert, politische Theorie als ein selbständiges, frei-stehendes Unternehmen zu verfolgen. Eine Version dieser Tendenz ist, Politik als angewandte „rational choice“ Theorie zu verstehen. Aber Menschen sind  nicht nur rationale Wesen; sie sind auch biologische Organismen, die ihr evolutionäres Gepäck auf dem Rücken mitschleppen. Konrad Lorenz hat dazu einmal die Beobachtung gemacht,  dass in evolutionären sowie auch in geschichtlichen Prozessen das Alte fast nie ganz abgeworfen wird.[7] Vielmehr lebt es als Bestandteil des Neuen, oft in beschränkterer oder veränderter Form oder auch mit neuen Funktionen ausgestattet, weiter. So ist, nach Lorenz, unser Erkenntnisapparat aus vielen separaten Bestandteilen im Evolutionsprozess zusammengewachsen sind. Um diesen Apparat zu verstehen, müssen wir untersuchen, wie er sich entwickelt hat. Ähnliches gilt vermutlich auch von der menschlichen Politik. Auch hier muss ein Zusammenhang bestehen zwischen dem, was wir jetzt sind und tun und wissen und können, und dem evolutionären Ablauf, der uns hierher gebracht hat. Aber wie sind die Anteile aufzulisten? Was ist uns von unseren Vorfahren mit auf den Weg gegeben worden und wann und in welcher Weise?

            Ethologie und Soziobiologie sprechen von einer anderen Beziehung zwischen tierischem und menschlichem Verhalten als die, welche Aristoteles anvisierte. Für Aristoteles handelte es sich um phänotypische Beziehungen zwischen verschiedenen Arten von Lebewesen, die er durch die Annahme geteilter Formen erklären wollte. Seit Darwin wissen wir, dass menschliches Verhalten sich evolutionär aus tierischem Verhalten entwickelt hat. Dieser Gedanke ist Aristoteles unbekannt. Ethologen und Soziobiologen operieren aber auch mit einem anderen Begriff von Politik als Aristoteles, einem spezifisch modernen Politikverständnis, das sie in meist naiver Weise von Machiavelli, Hobbes, Rousseau, oder Spencer entlehnt haben. Wo Aristoteles in der menschlichen Politik einen komplexen Tatbestand sieht, in dem tierische und menschliche Bedürfnisse und Fähigkeiten ineinander verwoben sind, verstehen unsere Ethologen Politik meisthin in reduktiver Weise als aus ein oder zwei Trieben oder Fähigkeiten entspringend, etwa einem Aggressions- oder Dominanztrieb oder einer Fähigkeit zum kooperativen Handeln. Ethologie und Soziobiologie vereinen so empirischen Fortschritt und begriffliche Naivität in ihren Überlegungen zur Politik.

Ich werde versuchen, dies zunächst einmal am Werk von Frans de Waal zu erläutern, der in mancher Beziehung höchst einsichtsreich zu diesem Thema schreibt. De Waal erklärt in seinem Buch Schimpansen Politik: “Die Wurzeln der Politik sind älter als die Menschheit” und menschliche Politik muss daher als  “Teil unseres evolutionäres Erbes, dass wir mit unseren nahen Verwandten teilen“, verstanden werden.[8] Auf Grund von Studien im Zoo von Arnheim schließt de Waal, dass es selbst legitim ist, in nicht-metaphorischer Weise von Schimpansen Politik zu sprechen. Nach ihm sind unser Politikbedürfnis und unsere Politikfähigkeit in Genen angelegt, die wir mit unseren vormenschlichen Verwandten teilen und wir können in diesem Sinne sagen, dass unsere Weise politisch zu sein von der Natur her in unserem Menschsein verankert ist.  Aber der Weg ist lang von einem Schimpansen Klan in einem holländischen Zoo bis zur klassischen polis und von dort zu den Verwicklungen des modernen Staates. De Waal weiß das natürlich im Prinzip aber er ignoriert es zumeist in der Praxis. Er lehnt zwar eine rein genetische Erklärung des menschlichen politischen Verhaltens ab, steht aber auch primär kulturellen Erklärungsversuchen kritisch gegenüber. Lebewesen, so schreibt er, unterscheiden sich voneinander „genetisch, anatomisch, hormonell, neurologisch, und in ihrem Verhalten“ aber “es ist sinnlos diesen letzten Unterschied von den anderen vier zu isolieren.“ Er glaubt zwar nicht, dass der genetische Code unser Verhalten “diktiert“.[9] Aber er besteht darauf, dass biologische und genetische Faktoren wichtiger sind, als wir anerkennen wollen. Obwohl menschliches Verhalten, in der Tat, “nie von A bis Z ererbt ist, mag der genetische Einfluss grösser sein als angenommen wird.”[10] Niemand wird sich solchen programmatischen Aussagen widersetzen. Aber die Frage ist, wie viel in unserem politische Leben sich durch genetische Faktoren erklären lässt, wie viel sich durch vergleichende Studien mit anderen Arten verstehen lässt, und in wieweit menschliche Politik spezifisch menschlich und historisch ist.

De Waals Forschungen erweisen sicherlich, dass Schimpansen zu langfristigem und hoch kompliziertem sozialen Verhalten fähig sind: sie arbeiten intensiv zusammen und das über längere Zeiträume weg, sie erkennen sich gegenseitig als Individuen, und sie erwerben praktisches und soziales Wissen voneinander. Dieses Zusammenarbeiten hat in der einfachsten Form die Gestalt von mehrfachem und wiederholtem zweiseitigem Verhalten. Aber diese Art von Verhalten qualifiziert diese Tiere nach de Waal noch nicht als politisch. Dafür ist eine weitere „triangulierende“ Verhaltensform notwendig. Ein solches triangulierendes Verhalten manifestiert sich, wenn ein Schimpanse in das Zwischenverhalten anderer Schimpansen interveniert. Nach de Waal befassen Schimpansen sich regelmäßig und systematisch mit triangulierendem Sozialverhalten. Er argumentiert weiter, dass ein solches triangulierendes Verhalten auch für menschliche Politik charakteristisch ist und dass wir diese menschliche Verhaltensform und, in der Tat, menschliche Politik überhaupt nur verstehen können, wenn wir sie mit den Verhaltensformen nahverwandter Arten, wie die Schimpansen, in Verbindung bringen. De Waals Einsicht, dass unser Gesellschaftssystem nicht nur aus bilateralen Beziehungen besteht, sondern dass es in ihm wesentlich auch hierarchisch organisierte Gruppierungen von triangulierendem Verhalten gibt, ist sicher von größter Bedeutung. Sie geht jedenfalls über das hinaus, was Sozialtheoretiker von Georg Simmel bis John Searle erkannt haben. Ob diese Einsicht aber zureicht, den spezifischen Charakter der menschlichen Politik zu erklären, ist eine andere Frage.

Unter den offensichtlichen Unterschieden zwischen der aristotelischen Sicht und de Waals ethologischer Betrachtungsweise ist, dass Aristoteles die Natur teleologisch und als Potential versteht, während de Waal in den Begriffen der modernen Genetik,  kausaler Notwendigkeit, und evolutionärer Entwicklung denkt. Nach der aristotelischen Auffassung ist es daher möglich, dass Menschen ihr Potential nicht verwirklichen und daher nicht oder nicht vollständig politisch leben.  Nach de Waal ist das Politischsein aber eine Naturnotwendigkeit. Seine Schimpansen können nicht anders als politisch leben und dasselbe gilt vermutlich auch vom Menschen.

De Waals moderner Naturbegriff motiviert auch seinen Vergleich von menschlichem Verhalten mit Tieren, die uns evolutionär nahe stehen. Aristoteles vergleicht  menschliche Politik dagegen mit Leben der sozialen Insekten,  weil er phänotypische Ähnlichkeiten zwischen menschlichen Institutionen und den „Staaten“  der sozialen Insekten als wesentlich ansieht. Diese Ähnlichkeit ist in der Geschichte des politischen Denkens immer wieder kommentiert worden. Was der Menschen mit anderen politischen Lebewesen gemeinsam hat, ist nach Aristoteles nicht sein triangulierendes Verhalten, von dem er nichts sagt, sondern dass er gesellschaftlich  und sesshaft  ist und  in einem Herrschaftssystem lebt, das ein gemeinsames Ziel verfolgt. Der Vergleich der menschlichen Politik mit dem Bienenstaat liegt ihm in dieser Hinsicht nahe. De Waal versteht andererseits, dass ein solcher Vergleich vom evolutionären Standpunkt her nutzlos ist. Wenn wir Politik ethologisch verstehen wollen, dann müssen wir uns fragen, wie sich menschliches politisches Verhalten entwickelt hat. Die sozialen Insekten sind aber evolutionär viel zu weit von uns entfernt, um als die besten Vergleichsobjekte für die menschliche Politik dienen zu können. Wir müssen menschliches Verhalten mit dem der Primaten vergleichen, die uns genetisch am nächsten stehen und nicht mit den sozialen Insekten. Bei näherem Zuschauen erweist sich darüber hinaus, dass das Leben der sozialen Insekten in einer wichtigen Beziehung ganz anders als das soziale und politische Leben des Menschen ist. Das Sozialleben der Insekten ist großen Teils genetisch fixiert während das unsere höchst flexibel ist. Wir kennen verschiedene Arten von gesellschaftlicher und politischer Organisation, und welche davon bei uns vorherrscht, scheint von historischen Bedingungen abzuhängen. Wenn wir dagegen vergleichend das Leben der Primaten studieren, dann stellen wir fest, dass ihr Sozialleben flexibler als das der sozialen Insekten ist und in dieser Beziehung dem unseren ähnlicher. Andererseits stellt sich heraus, dass die Primaten  überhaupt nicht in „Staaten“ leben, weder im Sinne von Insektenstaaten noch im Sinne von menschlichen Institutionen. Schimpansen in der Wildnis sind nicht sesshaft, sie besitzen keine scharf begrenzten Territorien; sie haben nur zeitweilige Behausungen und bewegen sich als ein Klan von einer Stelle zur anderen. In der Flexibilität ihres Zusammenlebens mögen diese Tiere uns an die Lebensbedingungen unserer primitiven Vorfahren erinnern, aber ihr Zusammenleben hat wenig mit unserer eigenen hoch institutionalisierten Form von Politik gemein. Wenn wir also nach den Wurzeln der menschlichen Politik im Leben der Primaten suchen, dann können wir die nicht in einer institutionellen Ordnung finden, sondern nur in gewissen Verhaltensweisen.  Und das eben ist was de Waal versucht. Er steht damit Theoretikern des zwanzigsten Jahrhunderts nahe, die Politik nicht von ihrer institutionellen Form her bestimmen sondern sie aus spezifischen Verhaltensmustern verstehen wollen. Hierhin gehört zum Beispiel Carl Schmitt, der Politik mit Hilfe eines Freund-Feindschemas definieren will, auch Hannah Arendt, für die Politik sich aus kommunikativen Zwischenhandeln bestimmt, und schließlich Michel Foucault, für den Politik eine Ausübung von Macht auf Machtbeziehungen ist. De Waals Formulierungen entsprechen, in der Tat, in mancher Beziehung den Überlegungen Foucaults. Beide interpretieren Politik als Triangulierung und sind daher willens eine breite Schicht von gesellschaftlichen Situationen politisch zu nennen, die nichts mit Politik im traditionellen, institutionellen Sinne zu tun haben. Von der aristotelischen Sicht her können solche Gedankengänge allerdings nicht überzeugen. Von diesem Standpunkt aus sind die Primaten kein gutes Modell für unsere Art von Politik, eben weil ihnen politische Institutionen fehlen. Aus diesem Grunde ist de Waals Ansicht auch von Ethologen kritisiert worden, die sich an einem Institutionsmodell von Politik orientieren. Nach deren Ansicht kann das Leben der Schimpansen höchstens als prä- oder protopolitisch bezeichnet werden.[11]

De Waal denkt überhaupt nicht an institutionelle Ordnung, wenn er Schimpansen sowohl wie Menschen politisch nennt. Sein Politikverständnis ist operationell nicht organisatorisch. Politik hat für ihn mit Verhaltensformen zu tun, nicht mit Institutionen. Schimpansen und  Menschen sind für ihn politische Wesen, weil sie im Stande sind, das soziale Verhalten anderer zu manipulieren. Solche Manipulation ist sicher am einfachsten, wenn die interaktiven Beziehungen flexibel und nicht genetisch vorbestimmt sind. Darum sind die sozialen Insekten für de Waal nicht politische Lebewesen, im Gegensatz zu Säugetieren mit ihren flexiblen Verhaltensweisen, oder, wie wir auch sagen können, mit ihrer Lernfähigkeit. Die Triangulation, die für de Waal der Kern des Politischen ist, bedarf keiner formalen Strukturen; sie kann ganz informell vor sich gehen, wie das bei Schimpansen der Fall ist oder bei unseren Vorfahren mit ihrer losen Stammesorganisation. Für Aristoteles wären diese Vorfahren nur zu geringerem Grade politisch zu nennen.  De Waals Vorstellung von dem, was Politik heißt, ist also in dieser Beziehung radikal von der aristotelischen verschieden. In der Auseinandersetzung zwischen diesen Positionen geht es also, wie wir sehen, nicht allein  um biologische Fakten sondern vor allem um die Frage, wie Politik zu verstehen ist.

Im Unterschied zu Aristoteles kennt de Waal keine scharfe Unterscheidung zwischen tierischer und menschlicher Politik. Wie die meisten Ethologen und Soziobiologen postuliert er  eine Kontinuität zwischen menschlichen und tierischen Verhaltensweisen und nimmt an, dass dieselben Kategorien und Begriff sowohl auf menschliche wie auf tierische Lebewesen anwendbar sind. Er sagt so von seinen Schimpansen, dass sie ein komplexes System von „wirtschaftlichem Austausch“ haben, dass sie „Koalitionen” formen, dass sie “strategisch planen” können, und dass sie in einem System von „Machtbeziehungen“ leben. Aber die Frage ist doch, inwieweit charakteristisch menschliche Begriffe wie „Wirtschaft“, „Koalition“, „Strategie“, „Planung” und “Macht” überhaupt auf nicht-menschliche Verhältnisse anwendbar sind. Nach de Waal könnten sich seine Schimpansen „offenbar in der politischen Arena (d.h., der menschlichen politischen Arena) zuhause fühlen.“[12] Aber diese Behauptung übersieht, dass seine Schimpansen keine Sprache sprechen und aus diesem Grunde gar nicht an menschlicher Politik teilnehmen könnten. De Waal übersieht, in anderen Worten, genau das Charakteristikum, das nach Aristoteles, menschliche Politik von Tierpolitik trennt. Politik ist für de Waal „Machtpolitik“, die auf Gewalt, Unterdrückung, und Furcht beruht. Ein ganzes Kapitel seines Buches befasst sich daher  ausschließlich mit Machtkämpfen in seinem Schimpansen Klan. Diese Kämpfe, so schreibt er, geben der Gruppe “einen logischen Zusammenhalt und selbst eine demokratische Struktur“ und damit einen politischen Charakter. „Alle Seiten suchen nach sozialer Anerkennung und fahren damit fort, bis sich ein zeitweiliger Ausgleich ergeben hat. Dieser Ausgleich bestimmt die neuen hierarchischen Positionen … Wenn wir sehen, wie diese Formalisierung sich im Verlauf von Versöhnungen ergibt, dann verstehen wir dass die Hierarchie ein stabilisierender Faktor ist, der Wettbewerb und Streit beschränkt. Kinderpflege, Spiel, Sex und Zusammenarbeit hängen von der sich ergebenden Stabilität ab“.[13]

De Waal deutet hier an, dass menschliche Politik in eben diesen Begriffen von Wettbewerb um Mittel, Machtkämpfen und dem Bemühen, eine Herrschaftsordnung herzustellen und zu erhalten, zu verstehen ist. Aber dieser Vergleich minimalisiert wesentliche Unterschiede zwischen tierischem und menschlichem Verhalten. Einer davon ist, dass die Bedürfnisse der Tiere mehr oder weniger fixiert sind, ein anderer, dass die Machtmittel der Tiere mehr oder weniger festliegen. Und ein dritter, dass dieselben Herrschaftsformen immer wieder von ihnen reproduziert werden. Nichts ist dagegen schwerer zu bestimmen, als was ein menschliches Bedürfnis ist. Gesellschaftstheoretiker haben sich immer wieder mit dieser Frage befasst, seit Platon von den grundlegenden menschlichen Bedürfnissen für Essen, Behausung, und Bekleidung gesprochen hat. Platon verstand aber auch zugleich, dass menschliche Politik nicht nur in der Erfüllung dieser Grundbedürfnisse besteht. Das große Dilemma der menschlichen Politik, so sagt er, liegt in unserem fortwährenden Verlangen nach mehr. Die menschlichen Machtmittel ändern sich zudem im Takt mit dem Fortschritt der Technik. Im Unterschied zu Schimpansen, kämpfen Menschen auch nicht nur mit mechanischen sondern ebenfalls mit geistigen (d.h. sprachlichen) Mitteln, die ebenfalls im fortwährenden Umbruch sind. Es gibt  im menschlichen Leben zudem kein festliegendes hierarchisches Ordnungsschema. In der menschlichen Politik stehen verschiedenartige Ordnungen immer miteinander im Wettbewerb. Macht und Hierarchie sind sicher Faktoren im menschlichen Leben aber das heißt nicht, dass sie das in genau derselben Weise wie im Tierleben sind.

De Waals Darstellung fehlt die aristotelische Erkenntnis, dass menschliche Politik zwei verschiedene Aspekte hat. Den ersten teilt es mit dem Leben unsere biologischen Verwandten, während der zweite Aspekt spezifisch menschlich ist. Wir können de Waal zustimmen, dass Menschen wie Tiere in einem dauernden Wettbewerb um Mittel zum Überleben sind und dass sie dazu neigen, ein Dominanzsystem zu errichten. Es ist auch richtig, dass Schimpansen ebenso wie Menschen zu triangulierendem Verhalten fähig sind und dass diese Fähigkeit für jegliche Art von Politik wesentlich ist. De Waals Darstellung verfehlt aber den zweiten Aspekt, den Aristoteles in der spezifisch menschlichen Form von Politik identifiziert. Entscheidend ist für Aristoteles, dass der Mensch Sprache besitzt und dass er diese gebrauchen kann um über gut und schlecht zu entscheiden und über fair und unfair. Ein solches Entscheiden erlaubt Menschen die Wahl zwischen verschiedenen Arten politischer Ordnung und zwischen verschiedenen Weisen Güter zu verteilen. Sprache macht Meinungsäußerung und Meinungsverschiedenheit, Diskussion und Debatte, Beratung und Urteil, Beschluss und Entscheidung – also wesentliche Aspekte der menschlichen Politik – möglich.

De Waals Überlegungen sind nicht ohne Einfluss auf die gegenwärtige Politiktheorie geblieben sind. So hat Francis Fukuyama in seinem neuesten Buch, The Origins of Political Order (2011), sich ausdrücklich mit de Waals Schlussfolgerungen identifiziert. Er schreibt: „Die Bedeutung des Verhaltens von Schimpansen für die politische Entwicklung des Menschen ist offensichtlich.“ (S. 33) Wie de Waal, glaubt auch Fukuyama an „die Aufdeckung der menschlichen Natur durch die moderne Biologie“ als wesentlich „für jegliche Theorie der politischen Entwicklung, weil sie uns die Grundbausteine für die spätere Entwicklung der menschlichen Institutionen gibt.“ (S. 28)   Diese „Grundlagen der politischen Entwicklung“  sind nach Fukuyama (1) dass Menschen ihre eigenen Verwandten und Freunde bevorteilen, (2) dass Menschen abstrahieren und kausal denken können und dass dies die Grundlage des religiösen Denkens ist, (3) dass Menschen eine Neigung haben, geistigen Modellen und ihren Regeln, einen inneren Wert zuzusprechen, und (4) dass Menschen nach Anerkennung streben und dass dies die Basis der politischen Legitimität ist.  (S. 43) Diese Thesen kommen natürlich nicht bei de Waal vor, aber dem geht es im Unterschied zu Fukuyama  auch nicht darum, die Entwicklung der politischen Institutionen des Menschen zu erklären.  Fukuyamas Versuch dies auf evolutionäre Weise zu tun, zwingt ihn andererseits zu rein spekulativen Behauptungen. Zu der gesicherten ethologischen und soziobiologischen Annahme, dass menschlicher Altruismus evolutionär zu erklären sei, fügt Fukuyama die ganz ungesicherten Behauptungen hinzu, dass menschliche Religiosität, die Hochwertung von Regelverhalten, und die Suche nach Anerkennung auch  genetisch erklärbar sind.  Es stellt sich heraus, dass sein Unternehmen, die Entwicklung der menschlichen Politik anthropologisch zu erklären, nur durch hoch spekulative Annahmen zu dem, was menschliche Natur sein soll, zu erreichen ist.

 

Zur Kritik der politischen Anthropologie

In scharfe Opposition gegen alle politische Anthropologie – ob aristotelisch oder ethologisch, oder „fukuyamisch“ – stellt sich Hannah Arendt, wenn sie schreibt: “Der Mensch ist a-politisch. Politik entsteht in dem Zwischen-den-Menschen, also durchaus außerhalb des Menschen. Es gibt keine eigentliche politische Substanz”.[14] Politik ergibt sich für sie, in anderen Worten, nur aus zufälligen Konstellationen menschlicher Beziehungen und ist als solche rein historisch und nicht evolutionär zu erklären. Wenn wir den Einzelmenschen betrachten, dann können wir nach Arendt keinerlei politische Anlage in ihm entdecken, weder im Sinne der aristotelischen Natur noch in dem der modern Genetik und Evolutionstheorie.

Diese Behauptung hat radikale Folgerungen. Nach Arendt ist es nur ein modernes Vorurteil zu glauben, „dass Politik eine unabweisbare Notwendigkeit sei und dass es sie immer und überall gegeben habe. Notwendig gerade – sei es im Sinne eines unabweisbaren Bedürfens der menschlichen Natur wie Hunger oder Liebe, sei es im Sinn einer unentbehrlichen Einrichtung menschlichen Zusammenlebens – ist das Politische nicht.“ Politik ist demnach streng von der Erfüllung von Bedürfnissen und der Notwendigkeit gesellschaftlicher Ordnung zu trennen. Das Politische  beginnt für Arendt „sogar erst, wo das Reich der Notwendigkeit und das der physischen Gewalt aufhören. Als solches hat das Politische so wenig immer und überall existiert, dass historisch gesprochen nur wenige große Epochen es gekannt und verwirklicht haben.“[15] Wir können all dies nur verstehen, wenn wir in Betracht ziehen, dass Arendt mit einem anderen Politikbegriff operiert  als Aristoteles oder de Waal. Für sie ist Politik ein freies Miteinanderhandeln und Verhandeln, ein freies Miteinandersprechen und sich Verständigen  im weiten Bereich der Öffentlichkeit. Das extrem Entgegengesetzte zur Politik ist für Arendt daher nicht soziales Chaos sondern der totalitäre Staat, der überhaupt kein freies Miteinanderhandeln und Reden mehr kennt. Ein solcher Staat wäre andererseits durchaus noch politisch im Sinne von de Waal und der meisten modernen Theoretiker der Politik.

Man könnte einwenden, dass Arendt ein politisches Ideal entwirft, das der politischen Wirklichkeit nur selten entspricht, und dass sie uns daher kein realistisches Bild von dem, was Politik eigentlich ist, gibt. Insbesondere könnte man ihre scharfe Trennung von Notwendigkeit und Politik bemängeln und das aristotelische Politikverständnis dagegen halten, nach dem Politik sich sowohl mit biologischen Notwendigkeiten befasst wie mit der Freiheit der menschlichen Vernunft. Es wäre leicht, Arendts Überlegungen aus diesen Gründen ignorieren.

Ich nehme aber an, dass ihren Worten noch ein anderer Gedanke zu Grunde liegt, der am einfachsten in Anlehnung an Nietzsche zu erklären ist. Nietzsche wird oft als Vertreter eines moralischen Naturalismus betrachtet; aber das erweist sich als unrichtig, wenn man seine Kritik der evolutionären Moraltheorie Paul Rées in Betrachtung zieht. Ree wollte die  menschliche Moral mit Hilfe des Altruismus im Tierleben verstehen. Nietzsche lehnt dies aber aus einem entscheidenden Grund ab, den er in einem Aphorismus in Jenseits von Gut und Böse nennt. Dort heißt es: „Es gibt gar keine moralischen Phänomene, sondern nur eine moralische Ausdeutung von Phänomenen.“ Der Satz muss allerdings selbst sorgfältig ausgedeutet werden. Er darf in jedem Falle nicht als Ausdruck eines moralischen Nihilismus verstanden werden; er besagt vielmehr, dass das Moralische immer auf der Ebene der Interpretation von Phänomenen zu suchen ist. Es gibt daher nach Nietzsche auch keine Moral im Tierleben und es gibt keine Kontinuität zwischen Tierleben und menschlich moralischer Existenz. Nietzsche vertritt in anderen Worten eine hermeneutische Moralauffassung. Das erklärt auch, warum er sich in seiner Genealogie der Moral so ausführlich mit dem Ursprung unserer moralischen Begriffe befasst (gut und schlecht, gut und böse, Schuld und schlechtes Gewissen, usf.) Er schreibt dort zum Thema Strafe:  „Man hat also … zweierlei an ihr zu unterscheiden: einmal das relativ Dauerhafte an ihr, den Brauch, den Akt, das ‚Drama‘, eine gewisse strenge Abfolge von Prozeduren, andererseits da Flüssige an ihr, den Sinn, den Zweck, die Erwartung, welche sich an die Ausführung solcher Prozeduren knüpft.“  Und es ist nur auf der Ebene des Sinns, wo wir Schuld und Strafe moralisch betrachten.

Wir können nun parallel zu Nietzsche sagen, dass es keine politischen Phänomene gibt, oder, wie Arendt es ausdrückt, keine politische Substanz, dass, noch einmal anders gesprochen, Politik keine natürliche Art ist – und dass es nur eine politische Ausdeutung von Phänomenen geben kann. Um noch einmal mit Nietzsche zu sprechen – und diesmal mit seinem Aufsatzes über Wahrheit und Lüge im nicht-moralischen Sinn – so haben wir in dem, was wir mit dem Namen „Politik“ benennen wollen,  ein Feld von Ähnlichkeiten vor uns, über das wir immer wieder versuchen, einen scharf umrissenen Begriff von Politik zu stülpen. Dass wir einen solchen Begriff von Politik haben wollen,  liegt an der praktischen Bedeutung, welche die Unterscheidung von politisch und unpolitisch für uns hat. (Man bedenke, wie bedeutend und umstritten Unterscheidungen zwischen Politik und Moral, dem Politischen und dem Privaten, zwischen politischen Entscheidungen und Wirtschaftsfragen sind.) Wie wir das tun hängt von unserer praktischen Einstellung ab und die ist nicht theoretisch vorbestimmt. Der von uns bevorzugte Begriff von Politik, den wir über das breite Netz gesellschaftlicher Beziehungen werfen, ist, in anderen Worten, selbst politisch motiviert.  Und dieser Begriff bestimmt jedes Mal auch, inwieweit wir Politik durch Begriffe von Macht oder Gewalt oder Herrschaft oder Ordnung oder Zusammenarbeit oder Kommunikation zu fassen suchen. Es gibt aus diesem Grunde keine Politik, die nicht ein Verständnis von sich selbst in sich einschlösse. Unser Begriff des Politischen ist selbst ein Teil unserer Politik.

Aus all dem folgt, dass tierische Verhaltensweisen für sich genommen gar keine politische Bedeutung haben können,  dass die biologische Tatsache, dass diese und jene Verhaltensweisen von der Natur her, das heißt, genetisch, in uns verankert sind, auch nichts politisch bedeutet, dass Politik eine Interpretation der Welt ist, die sich auf biologische und andere Fakten stützen wird (und dies auch tun muss, wenn sie realistisch sein will), die aber nicht mit diesen Fakten identisch ist. Insofern die Deutung dieser Fakten menschliche Sprache und menschlich Begrifflichkeit voraussetzt, folgt, dass wir nur bei Menschen im echten Sinne von Politik sprechen können, dass alles andere Begriffsverwirrung ist. Es folgt auch, dass es keine außerpolitische politische Anthropologie gibt – genau wie Plessner es angedeutet und Schmitt es ausdrücklich gesagt hat.

 

 

 

Anmerkungen

[1] Aristoteles, Politik, 1253a

[2] Helmuth Plessner, Macht und menschliche Natur. Ein Versuch zur Anthropologie der geschichtlichen Weltansicht (1931), Gesammelte Schriften, Band 5, S. 139.

[3] Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen, , Duncker & Humblot, 6. Auflage,  Berlin 1996, S. 60.

[4] Politik, 1253a 7.

[5] Ibid., 1252b.

[6] Ibid., 1253a.

[7]  Konrad Lorenz, Die Rückseite des Spiegels. Versuch einer Naturgeschichte menschlichen Erkennens, Piper 1973.

[8] Frans de Waal, Chimpanzee Politics. Power and Sex among Apes, The Johns Hopkins University Press, Baltimore and London, 2. Auflage, 1988, p. 207.

[9] Ibid., p. 195.

[10] Ibid., p. 197.

[11] Glendon Schubert, “Primate Politics,” in Primate Politics, ed. By G. Schubert and R.D. Masters, Carbondale and Edwardsville, Southern Illinois U.P., 1991, pp.42-44.

[12] Loc. cit., p. 4.

[13] Ibid., p. 208f.

[14] Hannah Arendt, Was ist Politik. Fragmente aus dem Nachlaß, herausgegeben von Ursula Ludz, Piper, München 1993, S.  11.

[15] Loc. cit., S. 41-42.

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