Familienähnlichkeit

Familienähnlichkeit

Hans Sluga

 

(Unveröffentlichter Vortrag, Wittgenstein Konferenz, Universität Ulm)

 

“Hier stossen wir auf die grosse Frage, die hinter allen diesen Betrachtungen steht. – Denn man könnte mir einwenden: ‘Du machst dir’s leicht! Du redest von allen möglichen Sprachspielen, hast aber nirgends gesagt, was denn das Wesentliche des Sprachspiels, und also der Sprache ist. Was allen diesen Vorgängen gemeinsam ist und sie zur Sprache, oder zu Teilen der Sprache macht.’ …. Und das ist wahr. – Statt etwas anzugeben, was allem, was wir Sprache nennen, gemeinsam ist, sage ich, es ist diesen Erscheinungen garnicht Eines gemeinsam, weswegen wir für alle das gleiche Wort verwenden, sondern sie sind miteinander in vielen verschiedenen Weisen, verwandt. Und dieser Verwandtschaft, oder dieser Verwandtschaften wegen nennen wir sie alle ‘Sprachen.’

Betrachte z. B. einmal die Vorgänge, die wir ‘Spiele’nennen. Ich meine Brettspiele, Kartenspiele, Ballspiel, Kanpfspiele, usw. Was ist allen diesen gemeinsam? … Und das Ergebnis dieser Betrachtung lautet nun: Wir sehen ein kompliziertes Netz von Ähnlichkeiten, die einander uebergreifen und kreuzen. Ähnlichkeiten im Grossen und Kleinen. Ich kann diese Ähnlichkeiten nicht besser charakterisieren als durch das Wort ‘Familienähnlichkeiten’: denn so übergreifen und kreuzen sich die verschiedenen Ähnlichkeiten, die zwischen den Gliedern einer Familie bestehen: Wuchs, Gesichtzüge, Augenfarbe, Gang, Temperament, etc.etc – Und ich werde sagen; die ‘Spiele’ bilden eine Familie.” (PU, 65-67)

Diese Worte aus Wittgensteins Philosophischen Untersuchungen sind uns bekannt, in der Tat, zu bekannt, um uns noch viele Gedanken zu machen. Wir wissen worum es Wittgenstein an dieser Stelle geht. Aber wissen wir es wirklich? Renford Bambrough hat einmal in einem bekannten und einflussreichen Aufsatz behauptet, dass Wittgenstein in diesen Zeilen das alte Universalienproblem gelöst hätte, oder wie er auf Englisch schreibt: “Wittgenstein solved what is known as ‘the problem of universals’.”[1]. Bambrough  fügt noch hinzu: “His paragraphs can be paraphrased into a doctrine which can be set out in general terms and can be related to the traditional theories, and which can then be shown to deserve to supersede the traditional theories.”[2] Während Bambrough nicht geradezu sagt, dass Wittgenstein eine Theorie produziert habe, scheint er doch zu glauben, dass man aus seinen Worten eine allgemeine “Doktrin” ableiten kann und zwar eine, die mit der traditionellen Universalientheorie im Wettbewerb steht und diese überwindet. Aber kann das stimmen? Zum ersten ist überhaupt nicht eindeutig, dass Wittgenstein mit seinen Worten  eine Theorie darstellen oder zumindest skizzieren will. Denn, nimmt er nicht immer wieder gegen die Möglichkeit  philosophischer Theorien Stellung? Sagt er nicht, dass es in der Philosophie keine Theorien und keine Propositionen gibt? Natürlich könnte man solche Bemerkungen einfach als hyperbolisch unter den Tisch fallen lassen, wie es ja auch viele Interpreten tun. Aber selbst dann bleibt fragwürdig, ob die zitierten Worte eine Theorie ausdrücken sollen. Selbst wenn Wittgenstein nicht grundsätzlich gegen philosophischen Theorien eingestellt ist, heisst das ja nicht, dass jedes Wort, das er schreibt, ein Teil einer Theorie ist. Es fällt bei seinen Bemerkungen über Familienähnlichkeiten jedenfalls auf, dass er garnicht allgemein von Universalien oder von Begriffen oder von allgemeinen Termini spricht, sondern nur von “Sprache”, “Spiel”, “Familie”, und “Zahl”. Er sagt nur, dass diese Art von Termini Familienähnlichkeiten charakterisieren und nicht, dass alle allgemeinen Termini Familienähnlichkeiten ausdrücken. Und diese Feststellung ist in im Text nicht durch einen allgemeinen theoretischen Anspruch motiviert, sondern soll zunächst einmal die Argumentation der ersten vierundsechzig Abschnitte der Philosophischen Untersuchungen gegen einen unmittelbar einleuchtenden Vorwurf verteidigen, den Vorwurf nämlich, dass Wittgenstein in diesen Paragraphen immer wieder von Sprache und Sprachspielen spricht, ohne diese Termini jemals definiert zu haben. Die Bemerkungen zur Familienähnlichkeit sollen uns nun überzeugen, dass solche Definitionen nicht notwendig sind, dass die Diskussion mittels konkreter Beispiele, wie sie in den ersten vierundsechzig Paragraphen vorexerziert ist, vollstndig ausreicht, dass, in der Tat, überhaupt nicht mehr zu erwarten ist. Die Bemerkungen zur Familienähnlichkeit sind also zumindest zunächst einmal defensiv gemeint und nicht als Beiträge zu einer positiven Theorie. Daher beginnt Wittgenstein diese Bemerkungen auch mit den Worten: „Denn man könnte mir einwenden…“ Und er beantwortet den Einwand mit dem Zugeständnis, dass er berechtigt ist: „Und das ist wahr.“ Er bestreitet garnicht, dass er das Wesentliche des Sprachspiels und also der Sprache garnicht beschrieben hat. Er macht er gesteht nur die Notwendigkeit einer Erklärung dieses merkwürdigen Sachverhalts zu: „Ich will versuchen, dies zu erklären.“

Nun könnte es aber sein, dass sich doch – und vielleicht gegen Wittgenstein Intention – eine Theorie aus seinen Worten ableiten liesse. Aber das ist auch wiederum fraglich. Denn Wittgensteins Worte besagen ja nur (wie schon Alfred Ayer betont hat), dass es bei ganz bestimmten Termini kein Eines gemeinsames gibt, welches alle die Dinge, die wir mit diesen Termini bezeichnen, miteinander teilen. Stattdessen sind diese so bezeichneten Dinge durch ein Netz verschiedener, übergreifender und sich kreuzender Merkmale gekennzeichnet. Aber solche Merkmale – wie “Wuchs”, “Augenfarbe” und “Temperament” – haben ja selbst wieder den Charakter eines Universalen. Und so wird eben der Charakter bestimmte allgemeiner Termini von Wittgenstein mit Hilfe anderer allgemeiner Termini erklärt. Aber wie soll es nun mit diesen primitiveren Termini stehen? Drücken die wiederum Familienähnlichkeiten aus, die wiederum durch ein Übergreifen und sich Kreuzen von weiteren und noch primitiveren Merkmalen charakterisiert sind? Damit käme es aber möglicherweise zu einem infiniten Regress. Andernfalls müssen wir annehmen, dass wir irgendwann einmal bei primitiven Merkmalen ankommen, die nicht selbst auf Familienähnlichkeiten, d.h., auf dem sich Uebergreifen und Kreuzen weiterer Merkmale beruhen. Wittgenstein hat das wahrscheinlich auch selbst eingesehen, denn er sagt ja, dass Begriffe wie “Sprache” Familienähnlichkeiten charakterisieren, während die einfacheren Merkmale Ähnlichkeiten zum Ausdruck bringen. Wittgensteins Bemerkungen zu  Familienähnlichkeiten stllen also gar keine in sich geschlossene Theorie der Universalien dar. Wenn sich eine solche Theorie aus  Wittgensteins Worten ableiten liesse, dann müsste sie zumindest aus zwei Teilen bestehen. Ein Teil würde von den Ähnlichkeiten sprechen, die gewissen einfachen Termini zugrunde liegen, der andere würde von Familienähnlichkeiten handeln, denen ein Netz sich sich kreuzender einfacherer Merkmale zugrunde liegen.

In der Frage, ob es Wittgenstein in den Abschnitten 65-68 der Philosophischen Untersuchungen überhaupt um eine allgemeine Theorie geht, und wie die aussehen wuerde, lohnt es sich, auf sein Blaues Buch zurückzugehen, wo ja diese Art von Überlegungen zum erstem Mal auftauchen. Da wird diese Diskussion dadurch ausgelöst, dass Wittgenstein auf den vorhergehen Seiten wiederholt gesagt hatte, dass Denken eigentlich ein Operieren mit Zeichen sei. Und nun heisst es: “Wenn wir sagen, dass Denken wesentlich ein Operieren mit Zeichen ist, dann könnte deine erste Frage sein: ‘Was sind Zeichen?’” (BB, S. 36) Aber Wittgenstein weigert sich nun, auf diese Frage “irgendeine allgemeine Antwort” zu geben. Stattdessen will er “bestimmte Fälle” unter die Lupe nehmen. (S. 36) Er argumentiert in diesem Zusammenhang überhaupt gegen “unser Streben nach Allgemeinheit” (S. 37) und gegen “die verächtliche Haltung gegenüber dem Einzelfall.” (S. 39) Es geht ihm also darum durch eine Erörterung von Beispielen sein vorhergehendes Reden über Zeichen und über das Denken als Zeichengebrauchen zu verteidigen. Wiederum ist seine Motivation defensiv und nicht positiv-theoretisch im Charakter.

Trotzdem könnte es scheinen, dass seine Betonung der Wichtigkeit, Einzelfaelle zu betrachten, selbst wieder auf einer allgemeinen Einsicht (oder vielleicht auch auf einer Theorie) über die Natur unserer Begriffe beruht. Und diese Idee liegt im Blauen Buch näher als in den Philosophischen Untersuchungen, denn im den früheren Text schreibt er:  “Wir sind z..B. geneigt zu denken, dass es etwas geben muss, das allen Spielen gemeinsam ist, und dass diese gemeinsame Eigenschaft die Anwendung der allgemeinen Bezeichnung ‘Spiel’ auf die verschiedenen Spiele rechtfertigt; während Spiele doch eine Familie bilden, deren Mitglieder Familienähnlichkeiten haben. Einige haben die gleiche Nase, einige die gleichen Augenbrauen und andere wieder denselben Gang; und diese Ähnlichkeiten greifen ineinander über.“ Und soweit entsprechen seine Formulierungen dem Text der Philosophischen Untersuchungen. Aber er fährt nun im Blauen Buch fort: „Die Vorstellung von einem Allgemeinbegriff als einer gemeinsamen Eigenschaft seiner einzelnen Beispiele ist mit anderen primitiven, allzu einfachen Vorstellungen von der Struktur der Sprache verbunden.” (S. 37) Es ist dieser letzte Satz, der zu Denken gibt. Spricht Wittgenstein hier nicht ganz allgemein von  “der Struktur der Sprache” und vom “Allgemeinheitsbegriff”? Handelt es sich doch, zumindest im Blauen Buch, um eine allgemeine Begriffstheorie? Aber die Frage wäre ja dann immer noch, wie eine solche Theorie eigentlich aussähe, denn wiederum wirft Wittgenstein Ähnlichkeit und Familienhnlichkeit durcheinander und betont nicht den Unterschied nicht zwischen komplexen Termini wie “Zeichen” oder “Spiel” und einfacheren wie “Nase” und “Augenbraue”.

Um hier Klarheit zu verschaffen, muss man vielleicht noch einen Schritt weiter zu der Quelle zurueckgehen, aus der Wittgensteins Überlegungen stammen. Die finden wir ueberraschenderweise in Friedrich Nietzsche’s Aufsatzfragment “Über Wahrheit und Luege im aussermoralischen Sinne.” Dass Wittgenstein ueberhaupt von Nietzsche beeinflusst ist, scheint vielen seiner Interpreten noch garnicht aufgefallen zu sein. Wir wissen aber jetzt, dass er schon zur Zeit des ersten Weltkrieges eine fünfbändige Nietzschaeausgabe erstanden hatte und auch, dass er zumindest zu einer der Schriften Nietzsches (dem Antichrist) in seinen Notizbüchern Aufzeichnungen gemacht hat. Dass Wittgenstein ein Interesse an Nietzsche haben sollte, ist natürlich auch durch seine Beschäftigung mit Schopenhauer zu verstehen. Jedenfalls kann man vermuten, dass Nietzsche gerade für den Wittgenstein des Blauen Buches wichtig gewesen ist. Nietzsche argumentiert, nun in seinem Aufsatz bekanntlich für die Auffassung, dass Wahrheit nur “ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonomyien, Anthropomorphie kurz eine Summe von menschlichen Relationen” sei.[3] Zu diesem Zwecke untersucht er auch die Natur der Begriffe. Und da schreibt er: “Jedes Wort wird sofort dadurch Begriff, dass es eben nicht für das einmalige Urerlebnis, dem er sein Entstehen verdankt, etwa als Erinnerung dienen soll, sondern zugleich für zahllose, mehr oder wenig ähnliche, d.h. streng genommen niemals gleiche, also auf lauter ungleiche Fälle passen muss.”[4] Begriffe charakterisieren also Ähnlichkeitsbeziehungen zwischen den Dingen, auf die sie angewendet werden. Diese Auffassung scheint Wittgensteins zumindest nahe zu stehen. Nietzsche verwendet in diesem Zusammenhang allerdings nicht den Terminus “Familienähnlichkeit”  und man könnte versucht sein, die von ihm erwogene Begriffsauffassung daher einfach als einen Variante des empiristischen Begegriffsverständnisses zu betrachten. Das ist sie auch in gewissen Sinne aber in einer Form vermittelt, die sie durch das erste Buch von Schopenhauers Werk Die Welt als Wille und Vorstellung erhalten hat. Es zeichnet sich hier also eine Genealogie ab, die mit Hume und Locke beginnt, und von da über Schopenhauer und Nietzsche, zu Wittgenstein führt. Zumindest in einigen dieser früheren Formen geht es aber gewiss um eine Begriffstheorie. Ob das auch bei Nietzsche der Fall ist, bleibt noch zu erwägen.

Es gibt in jedem Falle Hinweise auf eine engere Beziehung zwischen Nietzsche und Wittgenstein an diesem Punkt. Wittgenstein illustriert nämlich seine Auffassung im Blauen Buch mit einem Beispiel, das er Nietzsches Aufsatz entnommen hat. Nietzsche schreibt dort, dass das Beiseitesetzen des Einzelfalles im Begriffsgebrauch die Vorstellung erweckt “als ob es in der Natur, ausser den Blättern etwas gäbe, das ‘Blatt’ wäre, etwa eine Urform, nach der alle Blätter gewebt, gezeichnet, abgezirkelt, gefärbt, gekräuselt, bemalt wären… das heisst wieder: das Blatt ist die Ursache der Bltter.”[5] Und Wittgenstein macht daraus im Blauen Bucht: “Es gibt eine Tendenz… zu denken, dass der, der gelernt hat, eine allgemeine Bezeichnung zu verstehen, etwa die Bezeichnung ‘Blatt’, dadurch so etwas wie ein allgemeines Bild von einem Blatt gewonnen hat, im Gegensatz zu Bildern von bestimmten Blättern. Man hat ihm verschiedene Blätter gezeigt, als er die Bedeutung des Wortes ‘Blatt’ lernte; ihm die einzelnen Blätter zu zeigen, war nur ein Zweck, ‘in ihm’ eine Vorstellung hervorzurufen, die wir uns als eine Art von allgemeinen Bild denken. Wir sagen, dass er das sieht, was allen diesen Blättern gemeinsam ist.” (S. 38) Die Affinitt zwischen Wittgenstein’s Blauen Buch und Nietzsche’s Aufsatz über Wahrheit und Lüge beschränkt sich nun nicht auf diese Bemerkung. Das eigentlich Interessante ist nämlich, dass zwischen den beiden Texten auch eine weitgehende bereinstimmung über die Aufgaben der Philosophie besteht. Nach Nietzsche stellen alle Begriffe und daher auch alle Sätze Metaphern dar und die Aufgabe der Philosophie ist es, diesen metaphorischen Charakter des menschlichen Denkens herauszubringen. Für Wittgenstein im Blauen Buch drücken Begriffe, wie er sagt, „Analogien“ aus und die Aufgabe der Philosophie ist zu sehen, wann solche Analogien fruchtbar sind, und wenn sie zu Missverständnissen führen. Die Metaphysik der Zeit, die Augustin in seinen Konfessionen entwickelt, ist z..B. nach dem Blauen Buch das Ergebnis einer falschen Analogie zwischen Raummessung und Zeitmessung. Die philosophische Errterung des Leib-Seele Problems – von Descartes bis Russell – beruht auf einer falschen Analogie zwischen den Aussagen, in denen wir die äussere Wirklichkeit beschreiben, und Ausssagen, in denen wir persönliche Erfahrungen zum Ausdruck bringen. Die ganze Metaphysik beruht auf einer falschen Analogie zwischen Philosophie und Wissenschaft.  Man muss hinzufügen, dass diese Art von Formulierung sich nur im Blauen Buch, also in Wittgensteins Mittelperiode, und weder im Tractatus noch in in den Philosophischen Untersuchungen findet. Es scheint also, dass Nietzsche gerade zum Verständnis der Wittgensteinschen Mittelperiode wichtig ist.

Noch ein weiterer Hinweis ist allerdings hier wichtig. Nietzsches und Wittgensteins Überlegungen haben vielleicht einen gemeinsamen Ursprung. Der findet sich in Schopenhauers Paralegomena und Paralipomena wo es im 2. Band § 289 heisst: „Gleichnisse sind von grossem Werthe’ sofern sie ein unbekanntes Verhältnis auf ein bekanntes zurückführen … sogar beruht alle Begriffsbildung auf Gleichnissen; sofern sie aus dem Auffassen des Ähnlichen und Fallenlassen des Unähnlichen in den Dingen erwächst. Ferner besteht jedes eigentliche Verstehehen zuletzt in einem Auffassen von Verhältnissen … Eben weil Gleichnisse ein so mächtiger Hebel für die Erkenntnis sind, zeugt das Aufstellen überraschender und dabei treffender Gleichnisse von einem tiefen Verstande.“ Es besteht offenbar hier eine Korrespondenz zwischen Schopnehauers Begriff des Gleichnisses, Nietzsches Metapher, und Wittgensteins Analogie. Aber die drei gebrauchen diese Begriffe in verschiedener Weise. Für Schopenhauer sind metaphorische Sinn unserer Begriffe, dass Wahrheit und Lüge nicht voneinander zu trennen sind. Wittgenstein scheint zwischen diesen beiden Extremen zu stehen. Analogien sind für ihn manchmal fruchtbar aber auch manchmal gefährlich.

Man darf also die Naehe von Wittgenstein zu Nietzsche und Schopenhauer nicht übertreiben. Wenn man die Texte der beiden ersteren miteinander vergleicht, dann stellt man fest, dass Nietzsches Formulierungen allgemein weniger vorsichtig sind, auch unpräziser, und dass sie insgesamt zu einem hoeheren Grade einem traditionellen Philosophieverständnis verhaftet bleiben, Nirgendwo findet man bei ihm die Behauptung, dass es keine philosoophischen Aussagn und Theorien gibt, dass Philosophie sich mit Schweigen, oder mit Beschreiben, oder mit therapeutischen Interventionen begnügen muss. Ganz im Gegenteil legt Nietzsche in seiner Lehre vom Willen zur Macht und von der ewigen Wiederkehr des Gleichen eine eigene Theorie dar und gleichfalls in seiner Genealogie der Moral. Wittgensteins Zögern, den Nietzsches Einfluss auf das Blaue Buch anzuerkennen, ist also berechtigt. Bei aller Übereinstimmung mit Nietzsche, geht es Wittgenstein zugleich auch darum, sich von ihm abzusetzen, sich nicht auf seine theoretisierende Art des Philosophierens festzulegen. In Nietzsche’s Aufsatz mag es also so etwas wie eine allgemeine Begriffstheorie geben, aber das heisst nicht, das dasselbe von Wittgensteins Blauen Buch oder von seinen Philsophischen Untersuchungen gesagt werden kann.

Und das ist gut so, denn der Begriff der Famlienähnlichkeit ist auch nur in der von Wittgenstein gebrauchten Weise, d.h. defensiv verwendbar. Er ist viel zu ungenau, um als Grundidee einer allgemeinen Begriffstheorie zu fungieren. Das sollte uns nicht erstaunen, denn  der Terminus ist ja literarischer und nicht philosophischer Herkunft. Grimms Woerterbuch belegt seinen Ursprung bei Jean Paul, der von der „Familienähnlichkeit der Tage und Nächte“ spricht, also davon, dass ein Tag mehr oder weniger dem anderen gleicht und eine Nacht mehr oder weniger der anderen. Philosophisch ist nun zunächst einmal an diesem Terminus fragwürdig, auch in dem Gebrauch, den Wittgenstein von ihm macht, dass er zwei ganz verschiedene Arten von Beziehung miteinander vermischt: zum einen Familienbeziehungen, zum anderen Ähnlichkeitsbeziehungen. Machen wir uns den Unterschied an ein paar Beispielen klar:

Erstes Beispiel (ein typisch philosophisches, grausames Beispiel): Meine Mutter ist schwanger. Ich soll ein Brüderchen bekommen, aber durch eine Diphterieerkrankung meiner Mutter waehrend der Schangerschaft, kommt das Kind fürchterlich entstellt zur Welt. Es sieht keinem in der Familie ähnlich, es sieht fast kaum menschlich aus, eher wie ein Ungeheuer. Aber es besteht kein Zweifel: das Kind ist doch mein Bruder. Ich bin mit ihm verwandt. Ähnlichkeit oder Unähnlichkeit hat mit der Sache garnichts zu tun. Das einzig wichtige ist, dass dieses arme Kind von meinen Eltern gezeugt ist. Diese Beziehung ist also eine Abstammungsbeziehung oder allgemeiner gesprochen eine Kausalbeziehung nicht eine Ähnlichkeitsbeziehung. A und B sind miteinander verwandt, gehören zur selben Familie, wenn die richtigen Kausalbeziehungen zwischen ihnen bestehen, d.h. wenn A von B abstammt oder B von A abstammt oder wenn A und B von denselben Eltern oder Voreltern abstammen. Mit Ähnlichkeit in Wuchs, Augenfarbe, usw. hat das nur bedingt zu tun. Es ist natürlich dass solche Ähnlichkeiten oft eine Folge des Abstammungsverhältnisses sind. Das Bestimmende bleibt aber in jedem Falle das Abstammungsverhältnis, während Ähnlichkeiten entweder erkennbar oder nicht erkennbar sein mögen.

Wenn zwei Menschen zur selben Familie gehören, dann ist das natuerlich nicht immer der Fall, dass sie in einem biologischen Abstammungsverhältnis stehen. Denn  Familianzugehörigkeit ist auch eine Rechtszustand und der ist nicht auf biologische Kausalverhältnissen zurückzuführen. Ein Adoptivkind ist rechtlich ein Mitglied seiner Familie obwohl es in keinem biologischen Abstammungsverhältnis zu den anderen Familienmitgliedern gibt. Manchmal schwankt ein Begriff zwischen dem Biologischen und dem Rechtlichen. Der Begriff des „Deutschen“ wird so zum Problem. Traditionell haben wir ihn stets als einen biologischen Abstammungsbegriff verstanden, aber jetzt sehen wir, dass es auch echte Deutsche gibt, die in keinem solchen Verhältnis stehen. Unser Begriff des Deutschen hat sich verfeinert. Erwaegen wir die Lage noch etwas weiter mit einem zweiten Besipiel. Wir reisen jetzt zum Mond und treffen dort die bekannten Mondmenschen. Ueberrraschender Weise sehen sie alle wie Deutsche aus; sie sprechen und benehmen sich wie Deutsche; sie halten sich für das Volk der Dichter und Denker und reden immer vom Fussball. Unter ihnen gibt es sogar eine Familie Sluga und deren Mitglieder sehen verblüffend wie meine Verwandten aus. Einige könnten selbst meine Brüder sein. Sie sind es aber nicht. Ich bin mit ihnen überhaupt nicht verwandt. Mit Ähnlichkeit oder Unähnlichkeit hat die Sache aber garnichts zu tun. Die Mondbewohner, die wie Slugas aussehen, sind kein neuentdeckter Zweig der irdischen Sluga Familie. Sie haben nicht die richtigen biologischen, kausalen Beziehungen zu meiner Familie. Es wäre anders, wenn sich heraustellen sollte, dass die Geschichte von Peterchens Fahrt zum Mond der Bericht einer wahren Begebenheit ist und dass unter Peterchens Mannschaft auch einige Mitglieder meiner Familie waren. Aber die Mondbewohner sind, soweit wir wissen, nicht dieser Herkunft. Sie sind wedere Slugas noch Deutsche, wie ähnlich sie den Deutschen auch sein mögen. Sie haben z.B. kein Einwanderungsrecht auf der Erde und in der Bundesrepublik. Aber das nicht nur wegen des Fehlens biologisch-kausaler Beziehung zu geborenen Deutschen, sondern weil der Begriff deutschen Staatsbürgerschaft rechtlicher Art ist und bei solchen Begriffen gilt wiederum in besonderer Strenge, dass Ähnlichkeit kein Rechtstitel ist. Unsere Gesetze beziehen nun einmal nicht auf Mondbewohner. Die Mondbewohner sind kein Teil der deutschen Familie.

Es gibt allerdings auch reine Ähnlichkeitsbegriffe – nicht nur einfache sensorische Begriffe wie rot und grn, heiss und kalt, weich und hart, sondern auch solche bei denen Wittgenstein von Familienähnlichkeit spricht. Das jedenfalls ergibt sich aus einem dritten Beispiel. Dieses mal fliegen wir zum Mars. Da leben Wesen, die garnicht wie Deutsche oder selbst wie Menschen aussehen. Sie leben aber in einer hochentwickelten Kultur. Sie haben z.B. Zeigeorgane, mit denen sie Bewegungen in der Luft ausfhren können. Die Luft scheint dann für einen Augenblick an diesen Stellen zu gerinnen. Langsam wird uns klar, dass es sich hier um Kommunikationen handelt. Langsam lernen wir auch, den Inhalt dieser Kommunikationen zu übersetzen. Kein Zweifel, die Marsbewohner haben eine Sprache. D.h. natürlich nicht, dass ihr „Marsianisch“ mit einer unserer mensch;ichen Sprachen in einem Abstammungsverhältnis steht. Was uns überzeugt ist nur, dass sie ähnlich verfahren wie wir mit unserer menschlichen Sprache. Unser Begriff der Sprache ist also ein reiner Ähnlichkeitsbegriff.

Die Sache ist aber nicht immer so einfach zu entscheiden. Jetzt fliegen wir schon wieder ins Weltall. Die Venus ist jetzt unser Reiseziel. Da leben ganz fremde Wesen. Sie sind aus Rauch und Nebel geformt aber wir können sie unmittelbar verstehen. Aus den Wolkenformen donnert perfektes Deutsch. Aber wie ist das möglich? Vielleicht sollten wir nur sagen, dass ihre Sprache der unseren zum Verwechseln hnlich ist. Die Venusianer sind jedenfalls nicht mit uns verwandt und stehen vermutlich mit uns in keinerlei Abstammungsverhältnis. Deutsch ist doch, wie wir gerade gesehen haben, ein Abstammungsbegriff. Daher sollte es auch der Begriff der deutschen Sprache sein. Aber der Begriff der Sprache ist wiederum, wie wir auch schon gesehen haben, ein Ähnlichkeitsbegriff. Sollten wir also doch sagen, dass auch der Begriff der deutschen Sprache ein Ähnlichkeitsbegriff ist? Sprechen die Venusianer doch schliesslich deutsch? Es gibt dazu natürlich hierzu keine einzige „richtige“ Antwort. Wir können den Begriff der deutschen Sprache in der einen oder der anderen Weise gebrauchen. Viel hängt weahrscheinlich nicht daran – nur, z.B. ob die Venusianer auch von der deutschen Rechtschreibereform betroffen sind.

Solche Beobachtungen und Besipiele sollen nicht zeigen, dass Wittgenstein einen Fehler gemacht hat, als er von Familienähnlichkeiten sprach. Für seinen eigenen defensiven Zwecke ist der Begriff völlig ausreichend. Nur eignet er sich nicht zum Konstruieren einer allgemeinen Begriffstheorie. Es gibt allerdings auch praktische Zusammenhänge, in denen der Begriff der Familienähnlichkeit sich als unzureichend erweist.  Das ist der Fall, z.B., wenn man über geschichtliche und politische Fragen nachdenkt. Wittgenstein hat sich mit weder mit den einen noch mit den anderen Art von Frage befasst und daher hat sich dieses Problem für ihn nicht ergeben. Historische und politische Fragen zwingen aber dazu, über den Unterschied zwischen Abstammungs- und Aehnlichkeitsbegriffen klar zu sein. Denken wir z.B. an den Begriff der analytischen Philosophie. Sollte man den als Ähnlichkeitsbegriff auffassen, dann ergibt sich, dass alles was irgendwo einmal in der Geschichte wie analytisches Philosophieren ausgesehen hat auch ein Teil der analytischen Philosophie ist. Das heisst dann moeglicherweise auch, dass Platon und Aristoteles, aber auch Leibniz und Kant, und vielleicht auch Bolzano und Lotze (jeder zum Teil jedenfalls) analytische Philosophen waren. Wenn man den Begriff der analytischen Philosophie andererseits als Abstammungsbegriff versteht, dann wird man vielleicht sagen, dass die Philosophen die von Frege herkommen, und dann von Russell und Moore, und schliesslich von Wittgenstein und Carnap, eine Familie bilden, dass es bestimmte Kausalverhltnisse zwischen ihnen gibt (des Einanderkennens, Lesens, und Verstehens) und dass man auf Grund dieser Kausalbeziehungen so etwas wie einen Stammbaum der analytischen Philosophi zeichnen kann. Nach diesem Begriff sind mgliche Vorläufer wie Platon und Aristoteles oder Leibniz und Kant nicht als analytische Philosophen anzusehen. Es liegt allerdings hier vielleicht wie im Fall des Begriffes der deutschen Sprache. Man kann sich in einer oder anderen Richtung entscheiden. Aber man muss sich entscheiden, wenn man begriffliche Klarkeit verlangt und das kann man nur, wenn man den Unterschied zwischen Abstammungs- und Aehnlichkeitsbegriffen im Auge behält. Es scheint mir allgemein gesprochen, dass all spezifisch historischen Begriffe Abstammungsbegriffe sind, denn in allen geht es um bestimmte Kausalbeziehungen. Und das gleiche scheint mir für alle politische Begriffe zu gelten, denn  die sind ja eigentlich eine Unterklasse der historischen. Begriffe wie „Demokratie“, „Staat“, aber auch „Freiheit“ und „Gerechtigkeit“, und selbst der Begriff der „Politik“ sollten also als erst einmal als Abstammungsbegriffe verstanden werden. Das zwingt uns dazu, in jedem Falle den spezifischen Charakter der Abstammungsbeziehungen untersuchen. Wir können dann auch Stammbume konstruieren und mit Hilfe unserer Begriffe Entwicklungen darstellen.

Man kann diese Begriffe natrlich in jedem Falle auch zu Ähnlichkeitsbegriffen degradieren. Aber dann verlieren sie viel von ihrem Gehalt. Bei Ähnlichkeiten gibt es keine Geschichte, keine Abstammungsbeziehungen, keine Stammbäume, keine Entwicklungen. In Ähnlichkeitsbeziehungen zu denken hat aber auch, und gerade aus diesen Gründen, seinen Vorteil. Es erlaubt uns, vom Geschichtlichen, von Abstammungen, von Stammbäumen, von Entwicklungen abzusehen, Das vereinfacht oder öffnet manchmal den Blick. So ist unser Begriff der Sprache doch zunächst wahrscheinlich einmal ein Abstammungsbegriff gewesen, aber dadurch, dass wir ihnen zu einem hnlichkeitsbegriff abgeschwächt haben, können wir nun verstehen, dass auch ganz Fremde, wie unsere Venusianischen Freunde, etwas mit uns gemeinsam haben, nälich die Sprache. Umgekehrt können Ähnlichkeitsbegriffe sich auch in Abstammungsbegriffe verfestigen. Wen wir heute einen Stammbaum der indo-europaeischen kennen, wenn wir postulieren, dass diese Sprachen auseinanderhervorgegangen sind, dass die Voelker, die diese Sprachen gesprochen haben, eine gemeinsame kulturelle und biologische Geschichte haben, dann glauben wir das auf Grund der Ähnlichkeiten, die Linguisten zwischen lebenden und toten Sprachen entdeckt haben. Der Ähnlichkeitsbegriff „indo-europaeische Sprache“ ist für uns zu einem Abstammungsbegriff geworden. Diese Entwicklung weist auf eine Vertiefung unseres Verständnisses hin. Noch ein Beispiel bevor ich ende. Farben sind für uns allgemein paradigmatische Fälle von Ähnlichkeitsbegriffen. Schwarz ist, was wie Scharz aussieht. Aber der Maler weiss, dass manches Schwarz mit Blau gemacht wird und anderes Schwarz mit Rot. Und wenn man von den verschiedenen Abstammungen des Schwarz weiss, dann beginnt man auch das Schwarz neu zu sehen, dann erkennt man auf einmal den Unterschied zwischen einem kalten und einem warmen Schwarz. Auf Grund der Abstammung erkennt man auf einmal neue Ähnlichkeiten und Unähnlichkeiten. Abstammungsbegriffe können so zur Bildung neuer Ähnlichkeitsbegriff führen und auch darin kann eine Vertiefung unseres Wissens liegen.

Ich habe hier von zwei Sorten von Begriffen gesprochen – einer Unterscheidung, die allerdings durch den Terminus der Familienhnlichkleit verdeckt wird. Im praktischen Tagesgebrauch braucht man sich natürlich nicht ein fuer allemal fuer eine diese beide Sorten von Begriff entscheiden und man braucht auch nicht von Fall zu Fall zu entscheiden, ob man es jeweils mit einem Abstammungs- oder mit einem Ähnlichkeitsbegriff zu tun hat. Die Frage bleibt aber doch immer (und ist manchmal entscheidend), mit welche Art von Begriffen wir jeweils operieren und das ist doch sicher eine philosophische Frage.
Endnoten

[1] Renford Bambrough, “Universals and Family Resemblance,” in George Pitcher, ed., Wittgenstein, S. 186.

[2] Ibid., S. 192.

[3] F. Nietzsche, “Wahrheit und Luege im aussermoralischen Sinne,” Insel Verlag, S. 15.

[4] Ibid., S. 14.

[5] Ibid, S. 14-15.

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